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Am Edelspfad 1, 61169 Friedberg (Hessen)

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Historie

Erfahren Sie mehr über unsere Anfänge und unsere Entwicklung bis heute!

Wo kommen wir her? In welchen Traditionen stehen wir?

Vortrag des Historikers Michael Keller vom 21.08.1992 aus Anlass des 150-jährigen Bestehens des Vereins

Wo kommen wir her? In welchen Traditionen stehen wir? Antworten auf diese beiden Fragen zu erhalten, sich einen Augenblick aus dem Alltagsgeschäft herauszuziehen, sich selbst und die Öffentlichkeit mit der Geschichte des Vereins zu konfrontieren, um damit auch Anregungen für künftige Aktivitäten zu erhalten, ich denke dazu dient dieser Tag und insbesondere diese Feierstunde. Für den Ortsgewerbeverein reicht die eigene Geschichte 150 Jahre bis ins Jahr 1841 zurück und da persönliche Erinnerungen an die älteren Zeiten verschwommen und vergangen sind, hat der Vorstand des Ortsgewerbevereins erstmals einen Historiker mit dem Festvortrag aus Anlass seines 150-jährigen Bestehens betraut.

Zur ersten Orientierung konnte ich auf die verdienstvolle Darstellung von Otto Henning zurückgreifen, die dieser 1983 im Wetterauer Kreiskalender veröffentlicht hatte.

Die Geschichte des Wirkens dieses Vereins nicht allein für diese Stadt, sondern auch in dieser Region war bis dahin noch nicht geschrieben. Weder findet sich im dritten Band der Chroniken von Friedberg seine Gründung im Jahre 1841 erwähnt, noch wurde im einschlägigen Beitrag über berufliche Bildung in einer Veröffentlichung zur 750-Jahr-Feier der Stadt Friedberg 1966 die Bedeutung der Lokalsektion wie des Ortsgewerbevereins angemessen – zumindestens bis 1921, solange er ausschließlicher Träger der beruflichen Bildung in dieser Stadt war – gewürdigt.

Dieses Informationsdefizit über einen der ältesten Vereine dieser Stadt hat sich bis heute nicht vermindert.

 

Deshalb zuerst mehrere Bemerkungen zum besseren Verständnis

Erstens: der Verein, mit dem wir uns im Folgenden beschäftigen, kann auf sein 150-jähriges Bestehen zurückblicken, dies aber nicht ohne Veränderungen und Zäsuren. Jeder seiner Namen und die damit verbundene rechtliche Konstruktion steht für eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung in den Vereinszielen und die Jahre seiner Nichtexistenz im Dritten Reich für eine besondere Situation innerhalb des Handwerks. 1841 wurde er als Lokalsektion des Großherzoglich Hessischen Gewerbevereins gegründet, Anfang dieses Jahrhunderts nahm er den Namen „Ortsgewerbeverein zu Friedberg und Umgebung“ an, löste sich anfangs des Dritten Reichs selbst auf und besteht seit der Wiedergründung 1948 als Ortsgewerbeverein e.V. in dieser Stadt.

Zweitens: ich habe mich dem Ortsgewerbeverein ausschließlich über das umfangreiche Material genähert, das von Seiten des Vorstands über 150 Jahre hinweg regelmäßig im früheren Großherzoglich Hessischen Gewerbeblatt wie in den Lokalzeitungen in Form von Tätigkeitsberichten des Vereins und seiner Schule veröffentlicht wurde. Ich habe – noch – auf einen Blick in die umfangreiche Überlieferung des Vereins selbst verzichtet, die interessante Einblicke in das sicherlich auch nicht immer konfliktfreie Innenleben, so deutet es Henning an, versprechen. Bei einem Jubiläum sollte das Wirken des Vereins in diese Stadt, in die Gesellschaft hinein im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

Drittens ist dies ein Wirken, das sich nicht sofort erschließt. Dies findet seine Begründung darin, dass wer sich mit dem Ortsgewerbeverein beschäftigt, sich immer mit der Geschichte gewerblicher Bildung in dieser Stadt, zuerst der Meister später der Lehrlingsausbildung, und den wechselnden Schulstandorten, insbesondere dem Haus des Handwerks, auseinandersetzen muss. Die Geschichte des Vereins ist über Jahrzehnte so deckungsgleich mit der Geschichte gewerblicher Bildung, dass die weiteren Vereinszwecke, über die noch zu sprechen sein wird, darüber oft in den Hintergrund treten. Vergegenwärtigen Sie sich bitte, dass der Ortsgewerbeverein bis 1921 alleiniger Träger der gewerblichen Bildung in dieser Stadt war.

Viertens: der Ortsgewerbeverein war und ist nicht identisch mit dem örtlichen Gewerbe, sondern seine Mitgliedschaft zeigt sich in Anzahl wie in den Führungsgruppen als ein Veränderungen unterworfener Ausschnitt der Friedberger Gesellschaft aus Handel, Handwerk und Bürokratie.

Fünftens sollten wir beachten, dass in diesem Ausschnitt der Friedberger Gesellschaft, der sich über 150 Jahre hier zusammenfindet, sich gerade im Bereich des Handwerks personale Kontinuitäten ausgeprägt finden. Namen, wie ursprünglich auch Morschel – 1841 gegründet – , Jordis – 1851 gegründet – , Frick, Schmidt, Hieronimus, die sich schon auf den Mitgliedslisten der Jahrhundertwende finden, machen dies deutlich. Handwerksmeister wirken nicht alleine in ihrem Betrieb, sondern als Bürger dieser Stadt – früher ausgeprägter wie heute – in die Gesellschaft. Manche haben dies mit so viel Witz und so eigenständig getan, dass sie im besten Sinne zu Originalen geworden sind und die Gesellschaft sie dadurch besonders hervorgehoben hat, dass sie kaum unter ihrem richtigen Namen, sondern zumeist mit ihrem Spitznamen bekannt waren.

1841, das war ein Jahr der politischen „Friedhofsruhe“ im Großherzogtum. Der „Hessische Landbote“ von Büchner und Weidig schien schon fast vergessen, die Revolution von 1848 steckte noch in den Kinderschuhen. Wirtschaftlich hatte sich die Situation des Friedberger Handels und Handwerks gebessert, da der Einzug staatlicher Verwaltungen in die Stadt mit Kreisamt, Landgericht, Predigerseminar und die damit verbundene Verdoppelung der Einwohnerzahlen zwischen 1825 und 1847 auf knapp 5000 lebhafte Nachfrage im investiven wie im konsumtiven Bereich ausgelöst hatte.

Aus der am Anfang des 19. Jahrhunderts darnieder liegenden Landstadt begann sich langsam eine Verwaltungs- und Marktstadt zu entwickeln (1:1837, II, 1ff.). Allerdings fand in einer Übersicht der vorzüglichsten Gewerbe im Großherzogtum Friedberg keine Erwähnung – vor Ort war Handel und Handwerk noch weitgehend deckungsgleich und ausschließlich auf den lokalen Markt ausgerichtet. Aber schon die wachsende regionale Nachfrage sorgte für Veränderungen in der Zahl wie der Vielfalt der Gewerbetreibenden. Deren Zahl stieg von 230 im Jahre 1823 auf über 400 zu Ende der dreißiger Jahre, stagnierte in den vierziger Jahren. Neue bisher unbekannte Gewerbe, heute nennt man das wohl „gehobener Bedarf“, ließen sich in der Stadt nieder. Philipp Dieffenbach schrieb dazu in der ersten Stadtgeschichte von Friedberg aus dem Jahre 1857, „dass man vor 820 weder von Handelsgärtnern, noch von Kammmachern, Zeugschmieden, Lackfabriken, Konditoreien etwas wusste“. (D S.291) Diese Aufwärtsbewegung muss aber mit der Struktur von Handwerk und Handel in Verbindung gesetzt werden. Ein Großteil der jungen Menschen – Stichwort: demographische Revolution – fand keine Arbeit.

Und für die weitaus meisten Handwerksmeister in der Stadt, die zumeist nur einen Lehrling oder Gesellen beschäftigten, lag das Erreichen der bürgerlichen Nahrung außerhalb der Möglichkeit, wenn das zutrifft, was ein Marburger Professor 1948 über die Lage in den benachbarten Notstandsgebieten geschrieben hatte: „ein Handwerker (ist) erst mit zwei Gesellen und einem Lehrling imstande, etwas zu erübrigen und einigen, wenn auch geringen Wohlstand zu begründen“.

Wem das noch nicht plausibel genug sein sollte, auch im Handwerk lagen Welten zwischen den 63 Schuhmachern und 23 Schneidern, die die Gewerbeliste der Stadt von 1830 verzeichnete, und den Bierbrauern und Färbern. Trotzdem, es rührte sich etwas im Städtchen. Auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse hin gründeten sich die Kasinogesellschaft 1833 und der 1. Friedberger Singverein 1835. Auf die Nöte dieser Jahre versuchten ein Hilfsverein für die Bekämpfung der Massenarmut 1838, das Mathildenstift als Keimzelle der heutigen Sparkasse Wetterau 1834, wie die Lokalsektion des Großherzoglich Hessischen Gewerbevereins 1841, ein breites Spektrum von Antworten zu geben.

 

Der Ortsgewerbeverein steht somit in der ersten Reihe der Vereine dieser Stadt

Im hessischen Gewerbe sah es nicht gut aus. Die grenzenlose Gewerbefreiheit führte zur Überbesetzung von Handel und Handwerk und mangelnder Qualifikation. Viele verarmte Handwerker und Bauern suchten ihr Glück in der Auswanderung.

Wie sooft in diesen Jahren kam der Anstoß zur Veränderung – die Modernisierung – von oben. Im zuständigen Ministerium in der damaligen Landeshauptstadt Darmstadt sah man, dass es mit der überkommenen Erfahrungswissen und seiner Verwandten, dem funktionellen Analphabetismus,  die mehr oder minder die Mehrzahl der Gewerbe, des Handwerks und der bäuerlichen Wirtschaften bestimmte, nicht bleiben konnte, wenn man als Land national und international wettbewerbsfähig werden wollte. Wissen ist Macht.

So erfolgte 1837 die Gründung des Gewerbevereins auf der Ebene des Großherzogtums unter strenger Kontrolle des Ministeriums. Initiativen von unten waren in diesen Jahren nicht gefragt. Es kam zu einer eigentümlichen Konstruktion zwischen Staat und Gesellschaft, in der sich der Staat durch Bestellung der operativen Kräfte, des Präsidenten und des Sekretärs, eine starke Stellung im Landesgewerbeverein vorbehielt. Die Mitwirkung der Mitglieder aus Handel und Handwerk und damals noch aus der Industrie, kam in beratenden Ausschüssen zustande und insbesondere in den Lokalvereinen. Dort konnte man weitgehend selbständig, allerdings immer im Rahmen der Satzung wie der doch weitgehend vom Ministerium kommenden Gelder, wirken. Dies aber teilweise noch in Konkurrenz zu den überkommenen Vereinigungen von Handwerkern und Gewerbetreibenden wie Zünften und Innungen, die es ab und an im Großherzogtum noch gab.

Der Zweck des Landesgewerbevereins war es „den vorhandenen – ungenügenden – Zustand des Gewerbewesens im Großherzogtum zu erforschen, und durch gemeinsames Streben sowohl den Umfang, als die höhere Ausbildung der Gewerbe zu befördern“. Was das konkret bedeutete, machten die Themen deutlich, mit denen sich der Verein, insbesondere in seiner gleichzeitig ins Leben gerufenen Zeitschrift, ab 1837 ausführlich beschäftigte.

Es ging um die Verbindung der Gewerbetreibenden untereinander im Großherzogtum. Es ging um die Verbindung nach außen zu anderen Vereinen. Gefördert werden sollte die Qualifikation der Mitglieder durch Vorstellung neuer Techniken und Maschinen, durch den Aufbau einer eigenen Bücherei wie durch Reisestipendien. Innovation und Imitation sollten durch Preisaufgaben angeregt werden, auch über die Vergabe von Medaillen und Preise und natürlich mit den Industrieausstellungen, den späteren Gewerbeausstellungen auf lokaler und regionaler Ebene.

Dazu trat noch die Bekämpfung der besonderen Nöte dieser Jahre durch regionale Arbeitsmarktmaßnahmen in den Notstandsgebieten wie dem Vogelsberg (Flachsverarbeitung) und dem Odenwald. Zu guter Letzt verwies man auf das, was in Zukunft Schwerpunkt der Tätigkeit werden sollte, die Einführung einer Ausbildung nach der Lehre durch die Gründung von Handwerkszeichenschulen. Zu guter Letzt kam man noch auf die später immer wichtiger werdende Erteilung von Auskünften und auf die Erstellung von Gutachten zu sprechen. Lässt man die altertümliche Sprache weg, ist dieses Programm der Beginn staatlicher Industrie- und Gewerbepolitik, natürlich hier in den Maßstäben der damaligen Zeit. Alle Förderung war denkbar, nur ein Thema blieb vor der Tür: die Politik. Die Revolution von 1848 sollte dieses Tabu erstmals in Frage stellen und den Gewerbeverein wie seine Lokalsektionen in eine ernste Krise stürzen.

Warum haben wir dies hier so ausführlich dargestellt? Weil die Aktivitäten der Lokalsektion in Friedberg sich in diesem Rahmen bewegen wird. Schon vor der Gründung der Lokalsektion 1841 gab es Mitglieder des Gewerbevereins in Friedberg (Mitgliederliste Friedberg beispielsweise 1 : 1841,9). In dieser Gesamtmitgliederliste finden sich 31 Namen aus Friedberg vom Kreisrat, über den Kreisbaumeister, zum Bürgermeister, bis hin zu den größeren Kaufleuten, Gewerbetreibenden und Handwerkern verzeichnet. Das ist, wenn man die Vergleichszahlen von Butzbach 2, Vilbel 1, Nidda 1 dagegen sieht, ein großes Potenzial und das bei einem Vereinsbeitrag von drei Gulden jährlich. Ein Beitrag, der für die vielen Schuhmachermeister und Schneidermeister außerhalb ihrer Möglichkeiten lag, der dem Verein damals eine gewisse Exklusivität verlieh. Noch nicht vertreten waren dagegen Friedberger im Landesvorstand (1 : 1838, 149); hier beherrschten die Fabrikanten aus Darmstadt, Mainz und Offenbach, den gewerblichen Zentren des Großherzogtums, das Feld. In diesen Städten, in Darmstadt, Gießen und Mainz, hatten sich 1840 die ersten Lokalsektionen, verbunden mit Handwerkszeichenschulen, mit Genehmigung des Ministeriums gegründet.

Friedberg sollte die vierte Lokalsektion nach den Gründungen in den großen Städten des Großherzogtums werden (1 : 1841, 238), damit die erste unter den kleineren Städten (1 : 1841, 67). Ähnlich wie in den großen Städten wurde auch in unserer Stadt durch Kreisbaumeister Rhumbler und Seminarlehrer Soldan gleichzeitig eine Lokalsektion für Friedberg und Umgebung, am 03.11.184, im engen Zusammenhang mit einer Handwerkszeichenschule im Herbst 1841 ins Leben gerufen. Es versteht sich, dass beide – Lokalsektion wie Handwerkszeichenschule – durch den damaligen Kreisrat Küchler eröffnet wurden. Was sich im Großen über das Ministerium für das Land 1837 vollzogen hatte, wiederholte sich jetzt in kleinerem Maßstab vier Jahre später in Friedberg.

In dem Vorgang der Gründung der Lokalsektion und der Handwerkszeichenschule finden sich auch schon die Mehrzahl der Personen und Institutionen erwähnt, die bis zum Ende des Kaiserreichs und teilweise bis heute dem Verein verbunden sein werden: der Kreisrat als eine Art von Aufsichtsbehörde wie die Stadt, die übrigens damals nur noch den Status einer Gemeinde hatte, die für die Kosten des Lokals und dessen Beheizung aus der Gemeindekasse aufkam. Bald sollte das Mathildenstift, die Sparkasse, aus ihren Erträgen die Schule unterstützen. Die Gründung von oben zeigte sich auch in der Vorstandszusammensetzung der ersten Jahrzehnte (1 : 1842, 119). 1843 setzte sich der Vorstand aus dem Seminarlehrer Soldan, dem Stv. Kreisbaumeister Stockhausen zusammen, als Sekretär fungierte der Apotheker Wahl und als Stellvertreter des Sekretärs Bauaufseher Lauster (1 : 1846, 210). Als der Vorsitzende 1846 schwer erkrankte, kamen die Aktivitäten des Vereins weitgehend zum Erliegen (1 : 1847, 321).

1847 wurde dann ein neuer Vorsitzender, der Landgerichtsassessor Freiherr von Löw, gewählt, zu seinem Stellvertreter Gemeindebaumeister Ruths. Zwar waren Gewerbe und Handwerk in der Lokalsektion vertreten, die Vorstandsbesetzung zeigt aber, dass es sich hier weniger um eine Vertretung des Gewerbes, um eine Interessenvertretung handelt, sondern mehr um eine bürokratisch-belehrende Anstalt (1.1843, 312).

 

Was passierte in der Lokalsektion in diesen Jahrzehnten

Zeitweise gab es monatliche Sitzungen zu technischen Themen und vor allem muss die Handwerkszeichenschule (1 : 1845, 17) verstetigt werden, die in den ersten Jahren ihres Bestehens ein Auf und Ab verzeichnete, nachdem sie kurz nach ihrer Gründung aus nicht nachvollziehbaren Gründen zum Stillstand gekommen war.

Immerhin nahmen 1844/45 30 Schüler ihr Angebot wahr und es gab Überlegungen das Angebot auszuweiten. Die Revolution von 1848/49 führte zu einem Stillstand der Aktivitäten, weiterhin zu einem starken Rückgang der Mitgliederzahlen. Nicht nur in Friedberg reduzierte sich die Anzahl der Mitglieder fast um die Hälfte (46 Mitglieder in Friedberg). Das positive Ergebnis der Revolution schlug sich (s. 1 : 1849, 2) in neuen Statuten nieder, die einiges von der seitherigen Exklusivität der Dominanz der Ministerialbürokratie wie der Hauptstadtzentriertheit des Gewerbevereins durch die Herabsetzung der Jahresbeiträge, die selbständigere Stellung der Lokalvereine wie den Wechsel der Generalversammlungen an den Hauptorten des Landes wegnehmen.

Von 1850 bis 1885 scheint nichts so beständig zu sein wie der Wechsel im Vorstand des Gewerbevereins

Bekannte und vergessene Namen finden sich in rascher Folge: 1860 Vorsitzwechsel von Hofgerichtsadvokat Trapp II zu Ingenieur Geßner und dem Sekretär Lehrer Volk (1 : 1865, 376). Neuer 1. Vors. Kreisbaumeister Noack (1 : 1880, 186). Wechsel im Vorstandsvorsitz von Kreisbaumeister Reuß zum Bürgermeister und Landtagsabgeordneten und Buchhändler Scriba (1 : 1882, 347). Vors. Kreisbaumeister Grimm 85 Mitglieder (1.1884, 415) neuer Vors. Kreisingenieur Limpert, 2. Vors. Hofzimmermaler Georg Hieronimus. So beständig wie der Wechsel im Vereinsvorsitz scheinen auch die Versuche zu sein, das Vereinsleben zu aktivieren, so 1877 durch (1 : 1877, 315) 82 Mitglieder, die Veranstaltung belehrender Vorträge, die Beratung technischer und wirtschaftlicher Fragen.

Aber die drei Generalversammlungen zur Lehrlingsfrage, zum Entwurf des Patentgesetzes und zu Vereinsangelegenheiten finden wenig Interesse bei den jüngeren Meistern. Allein die (1 : 1879, 274) Diskussion über die Wiedereinführung von Innungen als Reaktion auf die Jahre der Gewerbefreiheit wird auch in Friedberg lebhaft geführt und die Mehrzahl der Gewerbetreibenden spricht sich für die Wiederbelebung des Innungswesens aus. Damit verbunden ist die Forderung nach Einführung (freiwilliger) Meisterprüfungen, da die Meister die Grundlage des Innungswesens sind.

Seit der Mitte der achtziger Jahre beginnt das Vereinsleben reger zu werden. Versammlungen zu technischen Fragen wechseln mit Exkursionen und Vorträgen ab. Eine Neuordnung der Vereinsbibliothek wie der Aufbau einer technischen Mustersammlung wird ebenso wie der Entwurf eines Status in Angriff genommen. Das Ergebnis waren 1885 16 Vorstandssitzungen, 6 Vereinsversammlungen zum Teil mit Vorträgen und 4 öffentliche Vorträge (1 : 1885, 340).

Folgerichtig wird neuer 1. Vorsitzender, der Hofdekorationsmaler Georg Hieronimus, der, wenn ich das recht sehe, der erste Handwerker war, der den Verein führte.

Mit ihm beginnt die Epoche, in der der Verein wirklich zum Ortsgewerbeverein wird und sich endgültig der Bevormundung durch andere gesellschaftliche Gruppen zu entziehen scheint. Das zeigen auch die Mitgliederzahlen, die (1 : 1864, 387) 1864 bei 79 (1: 1881, 324), 1881 nur noch bei 53 liegen und seit der Amtszeit von Georg Hieronimus in beständigem Wachsen begriffen waren. 1891 (1 : 1891, 212) bei 92 Mitgliedern, 1911 in Friedberg mehr als 170 Mitglieder, aber ebenso die Aufmerksamkeit, die dem Verein bei seiner Feier des 50-jährigen Bestehens 1891 zuteil wird. Unter dem Vorsitz von Handwerkern entstand aus der bürokratischen Gründung der starke Ortsgewerbeverein für Friedberg und Umgebung, der 1911 den Spenglermeister C. F. Frick an seiner Spitze sieht und insgesamt 205 Mitglieder zählt, davon mehr als 170 aus der Stadt Friedberg selbst. Der Verein suchte berufsständisch wie politisch Einfluss auf die Geschicke der Stadt zu nehmen.

Henning berichtet davon, dass sich der Ortsgewerbeverein überlegte, wer zur Wahl in den ehrenamtlichen Stadtvorstand vorgeschlagenwerden sollte. Waren doch damals weitaus mehr Handwerker und Gewerbetreibende politisch aktiv als heute. Auch für die Berücksichtigung der Mitglieder bei der Vergabe der zahlreichen Aufträge, die in jenen Jahren des Booms vor dem ersten Weltkrieg durch die starke Bautätigkeit zur Ausführung kamen, setzte sich der Verein massiv ein. Die Mitgliederliste zeigt auch, dass im Verein das Spektrum von konservativ (Hieronimus) über liberal (Langsdorf) bis sozialdemokratisch (der Reichstagsabgeordnete und Schreinermeister Busold) vertreten war.

 

Was gibt es noch aus jenen Jahrzehnten zu berichten?

Zweimal sah Friedberg Ausstellungen, die entscheidend durch den Ortsgewerbeverein getragen wurden, so (1 : 1875, 283) 1875 die Wetterauer Industrie-Ausstellung, aber insbesondere (1 : 1878, 337) die mit der Hauptversammlung des Landesvereins verbundene große Ausstellung in den Räumen des Kreisamtes in der Burg. Gemeindebaumeister Eduard Ruths hielt damals einen Vortrag über die gewerbliche Entwicklung der „Ehemaligen Freien Reichsstadt Friedberg“, der einen einzigartigen Blick in die damalige Struktur von Handel, Industrie und Handwerk ermöglicht. Er scheint mir allerdings darin zu irren, dass er seinen Vortrag mit der Bemerkung schließt, dass „die Landwirtschaft die Grundlage unseres gesamten gewerblichen und merkantilen Verkehres bildet, denn der Weizen ist das Gold der Wetterau!“.

Das wird bald nur noch die halbe Wahrheit sein, denn wenige Jahre später werden die Menschen, die aus der Wetterau als Bauhandwerker, als Maurer, Pflasterer, Weißbinder, als Meister wie als Geselle, aber auch als „Fabriker“ in die Industriegebiete und nach Frankfurt, Offenbach und Hanau gehen, das Gold der Wetterau sein. Ohne Fortbildung waren sie dort nicht konkurrenzfähig, denn so klagt ein Zeitgenosse 1868 (1 : 1868, 346): „ Der weitaus größere Teil der Gesellen und Arbeiter, sowie der kleineren Gewerbetreibenden, hat bis zum 14. Lebensjahr keinen anderen Unterricht genossen, als den, welchen die Volksschule bietet”. Nach dem 14. Lebensjahr, beim Eintritt in die Lehre, hört gewöhnlich aller Schulunterricht auf. Fortbildungsschulen für Lehrlinge bestehen nur an wenigen (größeren) Orten und werden nur von einem verhältnismäßig kleinen Teil der jungen Gewerbetreibenden besucht. Aber Handwerkerschulen (wie in Friedberg) vorzugsweise von Bauhandwerkern besucht.

 

Die Handwerkerschule

Damit sind wir bei dem Schwerpunkt der Tätigkeit der Lokalsektion wie des Ortsgewerbevereins angelangt, wie er sich in den Jahresberichten immer wieder – so 1864 – formuliert findet (1 : 1864, 388): „Der Brennpunkt der Wirksamkeit des Lokalgewerbevereins bildete die Handwerkerschule, und ist das Bestreben des Vereins fortwährend dahin gerichtet, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die Ausbildung und den Fortschritt der jüngeren Glieder des Gewerbestandes zu fördern.“ Die Entwicklung der Fortbildung im Gewerbe von den bescheidenen Anfängen 1841 mit der ersten Sonntagszeichenschule bis hin zum imposanten Bau des Gewerbeschulhauses, des späteren „Hauses des Handwerks“ steht beispielhaft für die prosperierende Entwicklung Friedbergs von 1840 bis 1914 von einer bescheidenen Landstadt zu einem selbstbewussten Schul- und Verwaltungszentrum. Was fand in dieser Handwerkerschule statt, welche Inhalte wurden von wem, an wie viele Schüler vermittelt, wo waren die Schullokale, wer kontrollierte den Ortsgewerbeverein als Schulträger, auf all diese Fragen, sollen hier Antworten gegeben werden, um ein Verständnis von der beeindruckenden Entwicklung des Gewerbeschulwesens in dieser Stadt zu bekommen und welchen Umfang diese Arbeit für den Ortsgewerbeverein hatte.

Beginnen wir mit einem 1849 niedergeschriebenen Rückblick auf die Tätigkeit der Schule in Friedberg (1 : 1849, 209, 225,243, 309 Friedberg in Fotokopie, 327, 3134 einfügen ! ). Seit der Gründung der Schule 1841 und ihrer Stabilisierung schon Mitte der vierziger Jahre ist ein beständiges Wachstum der Schule, verbunden mit der Differenzierung des Angebots, zu beobachten. Dieser Vorgang schlägt sich deutlich in beständigem und den Betrachter verwirrenden Wechsel der Schulbezeichnungen nieder, zuerst die Sonntagszeichenschule, dann die Handwerkerschule, ab 1884 die erweiterte Handwerkerschule, schließlich ab 1899 die Gewerbeschule.

Mit dieser ständigen Anpassung des Schulangebots an die Erfordernisse der Gegenwart verbunden, ist die Erweiterung der Zahl der Beschulten, die anfänglich freiwillig, ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts mehr und mehr obligatorischen Unterricht genießen.

Der Unterricht für berufstätige Mädchen und junge Frauen setzt mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung ein und bleibt immer Angebot, nicht Verpflichtung ( 1 : 1868, 352). Wir sehen die Ausdehnung der Unterrichtszeiten wie der Unterrichtsinhalte von den notwendigsten Kenntnissen und Fertigkeiten im technischen Zeichnen zur immer stärkeren Einbeziehung all dessen, was ein Handwerker zur Bewältigung seiner Aufgaben benötigt. So kommt der Unterricht im Rechnen, in Geometrie, Deutscher Sprache, Buchführung, Anfertigung von Kostenvoranschlägen, Materialienkunde und Führung des Gewerbes“ (1 : 1878, Beilage zu Nr. 22) und dies alles konzentriert auf junge Menschen aber auch für die Fortbildung der Gesellen und Meister. Zwar ist der Träger dieser Schule der Ortsgewerbeverein, die Zielgruppe der Schule verengt sich aber eindeutig auf das Bauhandwerk. Das ist von Beginn so. Schon in den (1 : 1850, 236) Anfangsjahrzehnten erteilen Praktiker aus der Bauverwaltung wie Gemeindebaumeister, Bauaufseher und Oberbaudirektionsaccesist den Unterricht. Später werden, nachdem der Unterrichtskanon immer weiter ausgreift, Lehrer (1 : 1852, 254) von der Musterschule wie von anderen Schulen der Stadt und natürlich Praktiker aus dem Handwerk einbezogen.

Seit der Errichtung der erweiterten Handwerkerschule 1884 wird es dann erstmals einen angestellten Lehrer geben. Von den 53 Schülern, die das Sonntagsangebot an technischem Zeichnen 1852 wahrnehmen sind 18 Schreiner, 4 Maurer, 4 Schlosser, 3 Spengler, 6 Glaser, 6 Weißbinder sowie je einer aus dem Dreher-, Zimmermanns-, Schuhmacher-, Sattler-, Kappenmacher- und Küferhandwerk. Dieses Verhältnis wird sich nicht mehr ändern (1 : 1885, 169, 365). Die erweiterte Handwerkerschule zählt dreißig Jahre später insgesamt 119 Schüler, davon die weitaus meisten – 100 – aus dem Bauhandwerk. Sie ist (1 : 1885, 118) eine Tagesschule, die im Winter an sämtlichen, im Sommer an zwei Wochentagen abgehalten wird. Nach wie vor besteht die Sonntagsschule, die 1885 die beträchtliche Frequenz von 81 Schülern aufweist. Diese Trägerschaft wird finanziell und organisatorisch von der Stadt Friedberg durch die zur Verfügung-Stellung von Schulräumen im Klosterbau und seit Mitte der achtziger Jahre für die erweiterte Handwerkerschule im Obergeschoss der sogenannten Städtischen Pferdeställe bzw. Pferdemarkthalle im Geviert Haagstr. 16 unterstützt.

Von außerordentlicher Bedeutung sind in all diesen Jahrzehnten die finanziellen Zuwendungen von Seiten des Landesgewerbevereins, der die staatlichen Mittel unter die einzelnen Schulen verteilt, verbunden damit ist eine zunehmende Kontrolle, die die Zentralstelle des Gewerbevereins in Darmstadt durch Unterrichtsbesuche und durch den Vergleich der Leistungen in Form landesweiter Ausstellungen von Schülerarbeiten ausübt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg bahnt sich mit der Schaffung eines Aufsichtsrates für die Gewerbeschule das an, was 1921 vollzogen wird: der immer stärkere Einfluss der Gemeinden bzw. des Gemeindeverbandes, des Kreises, auf die Schulträgerschaft, und ganz entscheidend die landesweite Vereinheitlichung der Anforderungen im Gewerbeschulwesen.

 

Als Résumé lässt sich folgendes sagen

Ob wie hier im Handwerk, in der Landwirtschaft oder im Handel, die ersten Schritte auf dem Weg zur lebenslangen beruflichen Fortbildung entstehen im 19. Jahrhundert aus privater Initiative, auf Vereinsbasis mit dem Druck von oben. Erst in unserem Jahrhundert, noch in den letzten Jahrzehnten, wird sich der Staat aller Schulen annehmen. Für die gewerbliche Schule datiert dieser Vorgang auf das Jahr 1921. Mögen rückblickend die Anfänge auch bescheiden gewesen sein, sie haben ihre Früchte getragen. Es besteht heute in der Geschichtswissenschaft kein Zweifel darüber, dass ein entscheidender Grund für das Überholen Englands, der Schmiede der Welt, durch das Kaiserreich die höhere Qualifikation der Handwerker wie der Fabrikarbeiter gegenüber seinen Kollegen in anderen europäischen Ländern war.

Warum wird hier so ausführlich über die Entwicklung der Handwerkerschulen berichtet? Nun, um zu verdeutlichen welchen großen Anteil an den Aktivitäten des Gewerbevereins dieser Bereich allein organisatorisch haben musste.

Darüber hinaus ist die Realisierung des Leitspruches dieses Hauses, dass „Die Theorie der Leitstern der Praxis ist“ auch in Friedberg nicht widerspruchsfrei verlaufen. Warum hatte man denn über Jahrzehnte allein den Sonntagsunterricht, später den Abendunterricht oder Unterricht allein in den Wintermonaten? Unterricht an Werktagen war erst zur Jahrhundertwende (1 : 1897, 124) – „zum erstenmal Sommer-Tagesunterricht“ – denkbar, da Lehrlinge und Gesellen selbstverständlich mitarbeiten mussten. Der Sonntagsunterricht stieß wiederum auf heftige Kritik der evangelischen Kirche, die dadurch ihre Schäflein vom Gottesdienstbesuch abgehalten sah. Dieser Konflikt zwischen den Interessen der Betriebe und den  volkswirtschaftlichen Interessen findet sich auch 1883 erwähnt, als „Die Lehrer darüber klagen, dass ein Teil der Schüler die Stunden nicht regelmäßig besucht, was besonders daher zu rühren scheint, dass die Lehrherren ihren Lehrjungen und Gesellen nicht die notwendige Zeit gönnen und denselben sogar die Feierstunden des Sonntags durch sogenannte ‘notwendige Arbeiten’ verkürzen“. Da stoßen schon im Ortsgewerbeverein die Interessen hart aufeinander. Der Fortschritt im Gewerbeschulwesen in dieser Stadt fand seinen Höhepunkt in der Eröffnung des neuen Gewerbeschul- und Gewerbevereinsgebäudes 1912, das uns heute unter dem Namen „Haus des Handwerks“ geläufig ist.

Dieses Haus zeigt mit seinem Standort, in seiner Größenordnung, in seiner Programmatik wie in seiner Entstehung, welche Bedeutung der Ortsgewerbeverein in dieser Stadt in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg 1914 hatte.

Das soll kurz begründet werden. Dieses Haus hat einen herausgehobenen Standort im damaligen Stadterweiterungsgebiet an der Mainzer-Tor-Anlage, der repräsentativen Straße der Friedberger Neustadt der Jahrhundertwende. Es stellt sich gleichberechtigt neben dem – so zeitgenössisch – Schulpalast der Augustinerschule, der Blindenschule und dem Postamt, allesamt große Bauten dieser Jahre. Es lässt damit die Zeiten in der Altstadt weit hinter sich, wo überfüllt und heruntergekommen, die Volksschule, die einstmals als Musterschule gegründet worden war, bleibt. Bedeutsam ist es noch aus einem anderen Grund. Augustinerschule, Blindenschule und Post wurden von Stadt, Land und Reich finanziert. Dieses Gewerbeschul- und Gewerbevereinshaus wurde entscheidend durch die großzügige Stiftung des Friedberger Rentners Ernst Windecker in Höhe von 50000 Goldmark ermöglicht. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Stadt Friedberg den Baugrund unentgeltlich zur Verfügung stellte. Ernst Windecker, der Hofdekorationsmalermeister Georg Hieronimus, der Spengler- und Installateurmeister C.F. Frick und der Zimmermeister Jean Füller als Hauptinitiatoren hinterließen dem Ortsgewerbeverein damit ein bleibendes Erbe in dieser Stadt. Welcher Verein kann auf ein vergleichbares Haus in dieser Stadt verweisen?

Der Erste Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt in die bis dahin stürmischen Entwicklungen der Stadt. Die großen Bauten dienten wie die Gewerbeschule mit zunehmender Kriegsdauer als Lazarett. Nach dem Krieg wurde 1921 im neu geschaffenen Volksstaat Hessen das Berufsschulwesen auf eine neue Grundlage in die Verantwortung der Kreise gestellt. Der Ortsgewerbeverein war vom Träger der beruflichen Bildung zum Vermieter der Schulräume für die nunmehrige „Gewerbliche Fortbildungsschule“ geworden. Otto Henning berichtet darüber, wie gleichbedeutend Ortsgewerbeverein und Gewerbeschule in den Anfangsjahren noch gesehen wurden. Ersuchte doch die Zentralstelle in Darmstadt den Ortsgewerbeverein mit den Lehrergehältern in Vorlage zu treten, da die Behörde in diesen bewegten Zeiten das Geld nicht rechtzeitig beschaffen konnte. Der Vorstand lehnte dies allerdings ab. Der frühere Hauptzweck des Ortsgewerbevereins trat jetzt in den Hintergrund, wenngleich es sich gezeigt hat, dass die Sorge um die Unterhaltung dieses Gebäudes bis heute zu den zentralen Vereinsaufgaben gehört.

Trotzdem, für andere bisher vernachlässigte Vereinsaktivitäten wie eine große Gewerbeschau zum „Tag des Handwerks“ 1929, ergab sich jetzt die Zeit und natürlich wurden weiterhin die Bereiche der gewerblichen Bildung vom Ortsgewerbeverein betrieben oder unterstützt, die der Staat mit der Berufsschule nicht abdeckte. Die Machtergreifung der Nazis, die sich so handwerksfreundlich gebärdeten, machte vor dem Ortsgewerbeverein nicht halt. Am 28.12.1933 beschloss der Ortsgewerbeverein seine Selbstauflösung, das Vereinsvermögen fiel an die Handwerkskammer. Das Haus diente in dieser Zeit der Kreishandwerkerschaft, der gewerblichen Berufsschule, der Luftschutzschule wie auch einer einjährigen Frauenschule, die in Verbindung mit der Schillerschule stand. Nach dem Zusammenbruch war das Haus des Handwerks bis April 1947 Sitz der amerikanischen Militärregierung. Mit der Wiedergründung des Ortsgewerbevereins 1948 unter dem damaligen Kreishandwerksmeister Peter Nau konnten die Rückgabeverhandlungen eingeleitet und erfolgreich abgeschlossen werden. Über die Leistung des Handwerks in diesen schwierigen Jahren, die eng mit dem Namen Peter Naus und dem Ortsgewerbeverein verbunden sind, berichtet die WZ 1955.

Das Handwerk sah sich ungeheuren Schwierigkeiten gegenüber, die im ersten Augenblick unüberwindlich schienen. In allen Handwerksberufen machte sich ein empfindlicher Mangel an Material bemerkbar.

Den Schlossern und Schmieden fehlte das Eisen, den Schuhmachern das Leder, den Malern und Weißbindern Farben und Lacke, aber auch in den holzverarbeitenden Betrieben und im Baugewerbe war der Materialmangel besonders groß. In der bombengeschädigten Kreisstadt war genügend Arbeit vorhanden, aber ein Teil der Handwerker konnte nicht eingesetzt werden, weil es an den notwendigen Baustoffen fehlte, und weil alle Maler von der Besatzungsmacht in Anspruch genommen waren, um die beschlagnahmten Gebäude herzurichten. Kreishandwerksmeister Nau ordnete kurz entschlossen die Notdienstverpflichtung für das Malerhandwerk in den umliegenden Dörfern an.

Auf die gleiche Weise verpflichtete er die Maurer für die Instandsetzung der Kanalisation. Dann erfasste er die in Friedberg lagernden Wehrmachtsbestände zur Sicherstellung des Bedarfes für die lebenswichtigen Betriebe. Es gelang ihm, den Hefe-Engpass im Bäckerhandwerk zu überwinden und den Schmieden Hufeisen zuzuteilen. Zur Reorganisation des heimischen Handwerks gehörte auch die Wiedereinrichtung einer Dienststelle der Kreishandwerkerschaft, die 1948 in das Haus des Handwerks zurückkehrte.

Der damalige Leiter der gewerblichen Berufsschule, Gewerbeoberlehrer Stetzer, erinnerte sich 1950 dankbar daran, dass Dank der Unterstützung des Ortsgewerbevereins Friedberg und zahlreicher heimischer Handwerker, die sich uneigennützig zur Verfügung stellten, die Kriegsschäden binnen kurzer Zeit beseitigt und der Schulbetrieb in vollem Umfang im Frühjahr 1948 wieder aufgenommen wurde.

Da durch die ständig steigende Zahl der Schüler absehbar war, dass die gewerbliche Berufsschule das Haus des Handwerks verlassen würde, wurde seit Anfang der fünfziger Jahre immer die Wiederbelebung des ursprünglichen Vereinszweckes, der Einrichtung einer Gewerbeschule – einer Fach- oder Meisterschule für Handwerker – vom Ortsgewerbeverein gefordert.

Bis Mitte der sechziger Jahre hatte die gewerbliche Berufsschule hier noch ihren Platz, dann bezog sie ihre neuen Räume in der bis dahin größten Schulbaumaßnahme des Kreises Friedberg, dem neu entstandenen Berufsschulzentrum zwischen Friedensstraße und Wingert. Wie es die auf Peter Nau folgenden Vorsitzenden Schlossermeister Karl Thaler, Schneidermeister Otto Henning, Schreinermeister Wolfgang Jordis und heute Dachdeckermeister Karl-Heinz Schier zeigen, ist das Handwerk im Ortsgewerbeverein fast unter sich. Der Verein kann auf ein Vereinsvermögen in Gestalt dieses Hauses verweisen, das neben dem pekuniären auch einen hohen ideellen Wert aufweist. Eine seiner zentralen Aufgaben – die Qualifikation der Meister – haben inzwischen andere übernommen.

Der Ortsgewerbeverein steht heute nach mehr als 150 Jahren an einer wichtigen Zäsur. Welche Ziele stellen sich einer veränderten Welt diesem im Lauf von 150 Jahren in Zusammensetzung und Aufgabenstellung so veränderten Verein?

Das zu beantworten bleibt anderen überlassen. Meine Aufgabe war es, das Wirken dieses Vereins in diese Stadt hinein aufzuzeigen und unter sich beständig verändernden Verhältnissen zu erklären. Das ist die Tradition, in der Sie stehen: Sich an die Aufgaben seiner Zeit wagen mit dem gleichen Mut, wie die Vorfahren ihn gegenüber ihrer Zeit hatten.

Michael Keller, Historiker

Friedberg, im August 1992

Quellen:
1. Verhandlungen des Gewerbevereins für das Großherzogtum Hessen
2. Denkschrift 75 Jahre
3. Intelligenzblatt
4. Waas
5. Staatsexamensarbeit
6. duThil
7. Adressbuch 1906
8. Zeitungsausschnittsammlung

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